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Brachyzephalie – wenn eine Behinderung zum optischen Schönheitsideal wird

 

Brachyzephalie bezeichnet eine erblich bedingte, angeborene Deformation des Schädels. Diese Kurzköpfigkeit führt zu verschiedenen gesundheitlichen Problemen. Brachyzephalie beim Menschen wird kompromisslos in den Bereich der unerwünschten Fehlbildung und Behinderung eingeordnet. Beim Hund hingegen wird sie gezielt gefördert. Die Bezeichnung der Behinderung ist hierbei keineswegs abwertend gemeint sondern beschreibt lediglich die gravierende Beeinträchtigung einer biologischen Funktionalität.

 

Viel zu viele Hunderassen leiden an den durch Menschen fabrizierten Behinderungen. Ganz gleich ob viel zu groß oder zu klein, viel zu fellig oder komplett nackt, mit Stummelbeinen, krummen Rücken oder in Sonderfarben – „der Mensch schafft sich die Welt, widdewidde wie sie ihm gefällt“. 

 

Und dennoch gipfelt für mich die Zucht brachyzephaler Rassen in der vollkommenen Absurdität, die Menschen bereit sind in Kauf zu nehmen, um für sich das Maximum „optischer Schönheit“ heraus zu holen. Diese Einstellung, die ich sehr offen und unmissverständlich vertrete, lässt natürlich die Gerüchteküche brodeln. Demzufolge würde ich persönlich bestimmte Rassen nicht leiden können.

 

Doch was steckt denn nun genau dahinter?

 

Ganz unabhängig meiner persönlichen Vorlieben, lasse ich selbst mich nach den vielen Jahren Hundetraining von optischen Vorzügen überhaupt nicht mehr lenken. Mich verzaubern Hunde einzig und allein durch ihren Charakter.

 

So sehe ich auch hinter einem völlig zerknautschten Gesicht sehr nette, liebenswerte, lebenslustige und lernwillige Hunde, die häufig so viel mehr vom Leben möchten, als sie körperlich in der Lage sind zu tun. Mir blutet das Herz, wenn ich diese unglaublich netten Hunde in einem Körper absoluter Verstümmelung betrachten muss - Stummelruten, Patellaluxationen, Keilwirbel, verdrehte Beine, die Unfähigkeit den Kopf Richtung Himmel zu heben. Ich sehe Hunde, die zum Suchen von Dingen ihre Gesichter im 90 Grad Winkel auf die Wiese drücken, um überhaupt irgendetwas riechen zu können. Ich bilde mich fort, um Erste-Hilfe-Maßnahmen bei herausgefallene Augen aus viel zu kleinen Augenhöhlen zu kennen.

 

Ich beobachte, wie Hunde mit massiven Über- und Unterbissen verzweifelt einen Keks in ihrem Maul hin und her schieben, um ihn irgendwie kauen zu können. Und die Krönung des Ganzen – ich höre Hunde bereits atmen bevor sie überhaupt in meinen Blickwinkel geraten und sich bereits ab 20 Grad mit weit aufgerissenem Maul und gerollter Zunge, verzweifelt Luft zu fächern!

 

Natürlich spreche ich das direkt und unmissverständlich an! Ich möchte Dinge verändern, Unwissenheit aufklären, zum Umdenken anregen. Auf eine Anmerkung meinerseits kommt häufig entschuldigend „Ja, der ist aufgeregt“. Liebe Besitzer brachyzephaler Hunderassen – ich höre meine Hunde auch in der größten Aufregung nicht atmen! Und wenn dem so wäre, wäre ich beim Anblick und dem Geräusch der Atemnot bereits auf dem Weg in die Tierklinik.

 

Gefolgt werden die Ausführung der Aufregung häufig mit dem Spruch „Der ist freiatmend. Wir haben lange nach einem guten Züchter gesucht“. Ich blicke in ein Gesicht mit Schlitzen als Nasenlöchern und mit einer, wie so häufig, viel zu kurzen Nase und denke mir – ein Qualitätssigel für eine Selbstverständlichkeit …

 

Allein die Falten über der Nase (bzw. besser gesagt über dem Nasenspiegel, denn das Vorhandensein einer richtigen Nase lässt sich bei dem einen oder anderen Exemplar bestreiten) führen neben einer katastrophal schlechten Atmung zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Blickfeldes eines Hundes. Je nach Ausprägung kann es passieren, dass der Hund 0.50 – 1 m vor den eigenen Füßen nichts sieht! Offensichtlich ist das egal, es sieht schön aus! Das muss so sein! Was sollte er da auch sehen wollen?

Es hemmt mich beim Training. Ich möchte nicht, dass ihnen etwas passiert. Und warum? Weil ich diese Rassen nicht leiden kann?

Eigentlich ist diese Tatsache an Ironie fast nicht zu überbieten. Hunde, die mir vom Wesen sehr am Herzen liegen, verteidige ich, versuche Verständnis für das Leid der Tiere zu schaffen, eine Veränderung im Denken der Menschen hervorzurufen. Und warum? Vermutlich weil mir deren Wohl mehr am Herzen liegt als den eigenen Besitzern.

 

Was lasse ich mir also vorwerfen? Dass mir das Herz blutet, wenn ich wirklich tolle Hunde kennen lerne, die in ihrem verstümmelten Körper niemals das Leben führen dürfen, was sie verdienen? Das ich körperliche Behinderungen und das Ausmaß dieser Züchtungen mit klaren Worten anspreche? Ja, dazu stehe ich und es ist auch meine Aufgabe, genau das zu tun. Wie herrlich einfach wäre das alles, wenn ich diese Rassen per se nicht leiden könnte. Dann würde mir deren körperlicher Zustand nämlich absolut egal sein!