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Kastration beim Hund

Soll ich meinen Hund kastrieren? Wenn ja, wann ist eine Kastration sinnvoll?

Sexuell motivierte Verhaltensweisen bleiben oft trotz Kastration erhalten.

Die Kastration von Hunden ist heutzutage zu einem häufig durchgeführten Routineeingriff geworden. Viele Hundehalter und Tierärzte hinterfragen die möglichen Folgen erst gar nicht und sehen die Kastration des Hundes als wirksames Mittel gegen "Dominanzverhalten", Sexualität, Stress oder unerwünschtes Jagdverhalten. Nebenbei können gesundheitliche Risiken ausgeschlossen werden.

Vorweg soll gesagt sein, dass ich seit jeher mit Hunden aus dem Tierschutz zusammenlebe. Kastration war für mich immer ein logischer Eingriff zur Fortpflanzungsvermeidung und obendrein ein Grund, um meinen Hunden jeglichen potenziellen "Stress" zu nehmen. Seit ich mich mit dem Verhalten von Hunden intensiv beschäftige, habe ich auch das Thema Kastration aus einer völlig neuen und kritischen Perspektive kennengelernt. Das heißt nicht, dass ich zur militanten Kastrationsgegnerin geworden bin, aber heute dennoch nicht pauschal zu einer Kastration raten würde.

Gute Gründe für Kastration?

Dein Hund ist hypersexuell?

Vermutlich eines der stärksten Argumente pro Kastration, aber nur wenn auch wirklich gerechtfertigt. Reitet Dein Hund schon im Welpenalter bei anderen Hunden oder Gegenständen auf oder ist im Erwachsenenalter phasenweise etwas lethargisch, weil die Nachbarshündin läufig ist, so ist dies nicht automatisch ein Grund für Kastration. Sexualität ist häufig eine Statussache. So ist in der Natur selbstverständlich, dass in einem Rudel aus Wölfen, Wildhunden oder auch verwilderten Haushunden durchschnittlich 5 Rüden und 2 - 3 Hündinnen ohne Kastration harmonisch zusammenleben. Nur der Ranghöchste oder maximal der Rangzweite sind zur Verpaarung berechtigt, dies ist auch bei den Weibchen so. Daraus lässt sich schließen, dass 70 % der freilebenden Caniden nie zum Deckakt kommen und dennoch ein glückliches Leben führen. Bei vielen unserer Haushunde ist die Aufgabenverteilung im Mensch-Hund-Rudel aber leider nicht so klar. Aus oft zu gut gemeinten Gründen leben Hunde mit zu vielen Privilegien ohne erzieherische Grenzen mit uns Menschen zusammen. Unklare Strukturen führen meist dazu, dass Hunde, die von Hause aus in klaren sozialen Hierarchien leben, selbst versuchen, Lücken zu füllen und Aufgaben zu übernehmen. Zeigen besonders Rüden aber trotz gutem und konsequentem Training dennoch Anzeichen für übersteigert sexuelles Verhalten, so kann eine Kastration hilfreich sein, um nicht zuletzt Dauerstress für den Hund zu verhindern.

Dein Hund büchst regelmäßig aus?

Hier gilt es in allererster Linie den tatsächlichen Grund des Streunens herauszufinden. Das Jagen gehört genauso wie das Sexualverhalten zu den 4 Grundmotivationen des Hundes - diese beiden sind aber so gut wie gar nicht miteinander vernetzt. Eine Kastration aufgrund von unerwünschtem Jagdverhalten vornehmen zu lassen, ist also völlig sinnlos. Viele Hunde streunen aber auch, um potentielle Partner zur Verpaarung zu finden. Doch auch hier gilt oft, dass der Hund im Leben zu wenig stellvertretende Befriedigung erfährt und deshalb auf seine "Instinkte" zurückgreift. Hunde, die im Alltag körperlich und geistig gut ausgelastet werden, sehen oft gar keinen Grund mehr, ihre Energie in Form von Sexualverhalten auszuleben. Und natürlich spielt auch hier wieder die Beziehung eine große Rolle: Hat der Hund eine enge Bindung zu Dir, hat er es gar nicht nötig, die Welt auf eigene Faust zu erkunden.

Dein Hund ist aggressiv?

Auch hier muss zuerst Ursachenforschung betrieben werden. Für Aggressionsverhalten gibt es zig verschiedene Gründe und Motivationen - zum Beispiel Angst und Unsicherheit, Beute- und Futteraggression, sozial motivierte Aggression, territoriale Aggression und eben sexuell motivierte Aggression. Diese kann in allen Geschlechtskonstellationen vorkommen.

Und auch in diesem Zusammenhang spielt Erziehung wieder eine große Rolle. Hunde müssen auch auf sexueller Ebene lernen, mit Frust umzugehen und potentielle Konkurrenten in unserer Gesellschaft zu dulden bzw. aushalten, nicht unbedingt mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu treten. Dennoch kann Kastration hier im Einzelfall eine dienliche Grundlage sein, um an dem Aggressionsverhalten des Hundes zu arbeiten, sofern dieses eben einen sexuell motivierten Ursprung hat. Auch der Zeitpunkt der Kastration spielt eine große Rolle in Bezug auf die Wirksamkeit: Sind sexuelle Handlungsweisen einmal ritualisiert und im Gehirn programmiert, werden sie immer weiter auftreten, auch wenn die vermeintlichen Hormone für dieses Verhalten gar nicht mehr vorhanden sein sollten. In jedem Fall gilt also: Kastration ist nicht das Allheilmittel, sie kann nur eine unterstützende Maßnahme zu Erziehung und Training sein.

Kastration als Verhütungsmaßnahme?

Du willst vermeiden, dass Dein Hund sich unerwünscht fortpflanzt? Das unterstützen wir auf allen Ebenen. Es gibt zu viele herrenlose Seelen, denen geholfen werden sollte. Dennoch kann Kastration kein Argument dafür sein. Als Hundehalter sollte man immer dazu fähig sein, seinen Hund soweit unter Kontrolle zu haben, dass es nicht zu unerwünschter Verpaarung kommt. Im Tierschutz ist Kastration natürlich oft ein vermeintlich unumgänglicher Weg der Verhütung. Wo mehrere hundert Hunde in Tierheimen und Auffangstationen zusammenleben, muss vorgesorgt werden. Es gibt hier aber auch die Möglichkeit der Sterilisation, die landläufig fälschlicherweise immer noch als Kastration der Hündin bezeichnet wird. Kastration bedeutet für beide Geschlechter eine Entfernung der Geschlechtsorgane, wohingegen bei einer Sterilisation die Geschlechtsorgane intakt bleiben, jedoch durch eine Unterbrechung der Eileiter bzw. Samenstränge Fortpflanzung verhindert wird. Zweitere Methode bringt also mit sich, dass die sexuellen Funktionen wohlbehalten bleiben, es nur nicht zum Nachwuchs kommen kann. Dies würde natürlich die Kette an Nebenwirkungen der Kastration gänzlich verhindern. Gerade Hunde aus dem Tierschutz, die oftmals ohnehin eine schwierige Vergangenheit haben, könnten durch einen natürlichen Reifeprozess im Leben viel Sicherheit gewinnen.

Die Frühkastration

Gerade in Bezug auf Frühkastration, also einer Kastration vor der Geschlechtsreife, gibt es dringenden Aufklärungsbedarf. Der Beginn der Pubertät ist großteils erblich festgelegt (Umwelteinflüsse, Stress und Ernährung können den Start verzögern oder beschleunigen). Zu diesem Zeitpunkt werden sowohl Pubertätsgene, Sexual- und Wachstumshormone als auch die Schilddrüse aktiviert. Durch das Zusammenspiel dieser Elemente treten im Körper Veränderungen ein, die das physische Erwachsenwerden einleiten. So wird z. B. das Längenwachstum der Röhrenknochen beendet und die sog. Wachstumsfuge endgültig geschlossen. Auch die Festigkeit und Kraft der Gelenke wird jetzt durch die Verstärkung der Sehnen und Bänder sowie einen verstärkten Muskelaufbau verbessert. Warum ein Hund, der vor diesen Vorgängen kastriert wurde, häufiger zu Gelenkserkrankungen tendiert, ist also selbsterklärend. Wenn hier noch eine genetische Disposition zu Gelenkserkrankungen vorliegt, ist der Schaden so gut wie vorprogrammiert. In einer Studie mit 759 Golden Retrievern, die 2013 von Forschern der University of California, Davis, veröffentlich wurde, konnte bei Rüden, die mit unter einem Jahr kastriert wurden, eine Verdoppelung der Hüftdysplasien festgestellt werden. Frühkastraten ist oft sowohl optisch als auch verhaltenstechnisch anzusehen, dass sie keine 7 Monate alt waren, als sie auf dem OP-Tisch lagen. Das fortwährende Längenwachstum der Knochen und deren mangelnde Robustheit sowie ein zu schwaches Bindegewebe lassen kastrierte Junghunde oft schlaksig und etwas unförmig aussehen. Aber insbesondere vom Verhalten her sehen wir oft infantile Clowns, die mit 5 Jahren noch kindliche Naivität verkörpern und manchmal im höheren Altern noch sehr unsicher sind. Hier ist einfach klar, dass es an biologisch natürlicher Reife fehlt. Ähnlich, als ob man einem 9-jährigen Mädchen ihre weiblichen Organe entfernt: Toi, toi, toi beim Erwachsenwerden! Wir alle wissen, dass die Pubertät ein Chaos in Kopf und Körper erzeugt. Prof. Dr. Udo Gansloßer, Privatdozent für Zoologie an der Universität Greifswald, spricht hierbei vom "Aufräumen des geistigen Kinderzimmers". Hier wird aussortiert, was nicht mehr gebraucht wird und was wirklich wichtig ist. Wer das Kinderzimmer im Gehirn nie räumen musste, schleppt immer noch eine Menge Zeug, also Verhaltensweisen, mit sich herum, die im Erwachsenenalter nicht mehr dienlich sind.

Übrigens: In seltenen Fällen rate ich sogar zu Frühkastration. Es gibt Rassen, bei denen sich Junghunde bereits mit 4 Monaten charakterlich als sehr ernst erweisen und kaum Infantilität zeigen. Das wäre grundsätzlich auch nicht schlimm, wären da nicht gesellschaftliche Bedingungen des Menschen, die Hunde oft freundlich und kompatibel machen müssen. Ein junger Kangal-Rüde, der mit wenigen Monaten schon Besucher anknurrt, hat durchaus Potenzial, noch ernster zu werden. Daher kann es in so einem Fall, je nach Ursache des Verhaltens, durchaus ratsam sein, den Hund frühzeitig kastrieren zu lassen. Auch Junghunden, die sehr früh das Bein heben, um zu markieren, und ungehemmt alles rammeln, was nicht niet- und nagelfest ist, kann durch Kastration unter Umständen ein entspannteres Leben geboten werden. Sehr häufig kann hier mit Erziehung und Training aber problemlos entgegengewirkt werden. Daher berate Dich in dieser Entscheidung bitte - bei allem Respekt - nicht nur mit jenen Personen, die an der Kastration Geld verdienen, sondern auch mit einem professionellen Hundetrainer, der das Für und Wider der Kastration im Einzelfall genau beurteilen können sollte.

Gesundheitsrisiken ohne Kastration?

Tierärzte und viele Hundehalter argumentieren eine Kastration mit der Prävention von Gesäuge- oder Hodentumoren. Natürlich gibt es dieses Risiko, aber wenn keine medizinische Indikation vorliegt, halte ich die Präventionsoperation für unangebracht. Jede achte bis zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs, dennoch wird präventiv in den wenigsten Fällen die Brust amputiert. Dazu ist zu sagen, dass die Risiken für Gesäugetumoren bei unkastrierten Hündinnen bei etwa 2 % liegen. Auch der Kastrationszeitpunkt ist erheblich. Wird vor der ersten Läufigkeit kastriert, so liegt das Risiko bei 0,5 %, nach der ersten Läufigkeit bei 8 %, nach der zweiten bei ca. 25 %.

Fazit ist also, dass Kastration kein pauschales No-Go ist, jedoch das Für und Wider im Einzelfall überlegt werden muss. In Deutschland regelt dies der Gesetzgeber über § 6 des Tierschutzgesetzes, welcher besagt, dass das "vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres verboten ist". Jedoch relativiert sich dieser Paragraf ein paar Absätze später wieder, da medizinische Gründe oder die schlichte Fortpflanzungsverhinderung das Verbot aufheben. Es liegt also an jedem Einzelnen, mit Unterstützung kompetenter Experten eine Entscheidung pro oder contra Kastration seines Hundes zu treffen. Dass es keine unüberlegte Selbstverständlichkeit sein sollte, hoffe ich mit diesen Zeilen vermittelt zu haben...


Hier geht's zum Podcast "Hundestunde" mit Conny Sporrer und Marc Lindhorst

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