Der Secondhand-Hund: Über Fluch und Segen von Tierschutzhunden
Einen Hund aus dem Tierschutz aufzunehmen, ist mit Sicherheit eine höchst erstrebenswerte Angelegenheit. Einfach viel zu viele arme Seelen sitzen ungerechtfertigt in Tierheimzwingern oder warten in Tötungsstationen auf ihre „Entsorgung“. Dennoch gilt es, wie auch bei Hunden vom Züchter, immer ganz genau zu hinterfragen, ob der auserwählte Wunschhund auch wirklich zu einem passt. Vor allem aber, ob man als Mensch auch den Bedürfnissen des Hundes gerecht wird. Unseriöse Tierheime, Tierschutzorganisationen, aber auch Privatpersonen buhlen dann mit Attributen wie „ewiger Dankbarkeit“ oder „guter Sozialisierung“ des Hundes um die neuen Halter. Doch es braucht mehr als nur die Herzen der Menschen. Es braucht Aufklärung, Wissen und Vorbereitung, um einen Hund verantwortungsvoll zu halten, egal ob aus dem Tierschutz oder nicht.
Ein herzerweichendes Foto auf Facebook, große schwarze Kulleraugen und eine Geschichte, die zu Tränen rührt und zack – befindet sich der neue Vierbeiner quasi bereits im Wohnzimmer. So oder ähnlich beginnen die meisten Geschichten mit Hunden aus dem Tierschutz. Ganz aktuell habe ich es mit Tobi zu tun, einem einjährigen, reinrassigen Labrador, erobert bei eBay-Kleinanzeigen. Die Vorgeschichte von Tobi ist nahezu unbekannt, fest steht, dass er von seinen völlig überforderten 75-jährigen Vorbesitzern bei einem Tierschutzverein nahezu kommentarlos abgegeben wurde. Nach eintägigem Aufenthalt bei einer Pflegestelle wurde er aufgrund seines sympathischen Aussehens schnell in eine neue Familie vermittelt. Und dann ging das Chaos erst richtig los. Tobis Familie rief mich zu sich, weil sie mit seiner ungestümen Art scheinbar nicht besser klarkamen als seine Vorbesitzer. Der Rüde verhält sich wie ein Welpe: Seine Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit liegen unter 3 Minuten, und vor allem hat er eines nicht gelernt: Menschen zu respektieren. Nun, bei einem 12 Wochen alten Labradorwelpen hat dies noch nicht so schwerwiegende Auswirkungen wie bei Tobi mit seinen 28 kg und voll ausgereiftem Gebiss. Letzteres lässt er auch seine Umwelt an vielen Stellen spüren, er zerstört, was er kann, und knabbert leidenschaftlich gerne an den Händen und Füßen der Menschen ... hat es ihm doch nie jemand verboten.
Fälle wie Tobi gehören natürlich zu den Worst-Case-Szenarien. Nahezu erwachsene Hunde, die nie Erziehung erfahren haben, sind in der Haltung einfach unglaublich zeit- und energieintensiv, da man einfach ganz von vorne beginnen muss. Dennoch ist Tobi im Kern ein feiner Kerl, seine Unerzogenheit darf man nicht automatisch auf seinen Charakter übertragen. Es ist wieder einmal der Mensch, der hier versagt hat.
Mangelnde frühzeitige Erziehung kann ein Defizit von Hunden aus zweiter Hand sein. Fairerweise muss man dazu sagen, dass dies auch einen sehr großen Teil der Züchterhunde betrifft. Ob Straßenhund oder Designerhund – zu viele Menschen können dem Kindchenschema ihres Hundes nicht widerstehen und beginnen sich erst mit Erziehungsfragen zu beschäftigen, wenn es bereits Probleme gibt.
Ein weiterer Punkt, vor allem bei ehemaligen Straßenhunden, ist die angeblich gute „Sozialisierung“ der Tiere. Man geht dabei davon aus, dass Hunde, die ihr bisheriges Leben auf der Straße gefristet haben, sehr gut mit allen möglichen Umweltreizen umgehen können, da sie ja in einem sehr reizintensiven Umfeld gelebt haben. Bei Hunden, die aus einem urbanen Gebiet kommen, mag das zutreffen, jedoch werden Straßenhunde auch oft aus wenig besiedelten Gebieten geholt und sind die Alltagsgeräusche des Stadtlebens eben nicht gewohnt. Sozialisierung bedeutet mehr als Umweltsicherheit. Einerseits bedeutet es einen sicheren Umgang mit Artgenossen, also das richtige Einschätzen anderer Hunde, ohne übertrieben zu reagieren. Das ist bei Straßenhunden in der Tat häufig der Fall. Sie leben meist in kleinen oder größeren Rudeln, völlig auf sich selbst gestellt. Dabei ist es überlebenswichtig, eine deutliche Sprache zu sprechen und weder besonders ängstlich noch aggressiv zu sein. Zum Problem wird es aber dann, wenn ein solch feingeistiger Straßenhund vermittelt wird und dann auf der Straße auf all die plumpen Hunde trifft, die eben nicht gelernt haben, so nuanciert zu kommunizieren. Wir müssen uns vor Augen halten, dass es für solche Hunde z. B. eben nicht normal ist, beim Gassigehen unzählige Artgenossen zu treffen und territoriale Reviere kreuz und quer zu erkunden. Insofern kann die „gute Sozialisierung“ mit Artgenossen auch einmal zum Nachteil werden.
Andererseits, und das ist wohl oft eines der größten Mankos, hat Sozialisierung auch mit dem Umgang mit Menschen zu tun. Egal, ob Straßenhund, Tierheiminsasse oder Zuchtwelpe: Viele Hunde haben in der sog. „Sozialisierungsphase“ (etwa zwischen der 4. und 16. Lebenswoche) leider keine Gelegenheit, all die Dinge kennenzulernen, die später für sie im Leben von großer Relevanz sind. Allen voran der Umgang mit möglichst verschiedenen Menschen. In dieser jungen Phase ist das Gehirn so aufnahmefähig wie ein Schwamm und ermöglicht wichtige Rückschlüsse. Ein Beispiel: Trifft der Welpe auf verschiedene freundliche Männer – einen mit Bart, einen mit Kappe und einen mit langen Haaren – lässt sein Gehirn später den Rückschluss zu, dass soweit alle Männer o. k. sind. Diesen Vorgang nennt man Generalisierung. Lernt der Welpe in dieser Lebensphase zu wenige verschiedene Männer kennen oder sammelt gar negative Erfahrungen mit ihnen, so wird er später jeden Mann neu bewerten und im Zweifel unsicher reagieren. Genauso verhält es sich natürlich mit Frauen, Kindern, älteren oder behinderten Menschen usw. Alles, was dann nicht ins bekannte Schema passt, wird kritisch beäugt – im schlimmsten Fall auch angegriffen.
Du siehst also, es ist nicht unbedingt eine Frage der Herkunft, sondern vor allem typ- und charakterbedingt, inwieweit sich bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen (oder eben zu wenige davon) im Wesen des Hundes festigen. Holt man sich seinen Wunschwelpen vom Züchter, kann es also mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu den gleichen Problemen kommen, wie man sie oft bei Secondhand-Hunden annimmt, da auch Züchter häufig Fehler in der Aufzucht machen. Und wir reden dabei nicht von unseriösen Vermehrern, sondern manchmal von Fehlern, die in guter Absicht gemacht wurden, doch leider fatale Auswirkungen auf das spätere Leben haben können, z. B. wenn Hunde erst mit 12 oder 16 Wochen das erste Mal andere Hunde(rassen) kennenlernen. Insofern kann es sogar sehr große Vorteile haben, erwachsene Hunde aufzunehmen. Hier kauft man nicht die Katze im Sack, sondern weiß schon sehr genau, was man erhält. Und meist sind auch die Grundsatzthemen wie z. B. Stubenunreinheit längst unter Kontrolle. Egal also, ob Welpe vom Züchter, Secondhand-Hund oder ehemaliger Straßenköter: Die wichtigste Frage, die wir Menschen uns stellen sollten, ist immer, ob man das Leben des Hundes tatsächlich bereichern kann. Eine Frage, die sich einerseits natürlich die künftigen Halter, aber auch die vermittelnden Personen und Vereine stellen sollten. Natürlich ist klar, dass sowohl der finanzielle als auch der emotionale Druck oft sehr groß sind. Trotzdem wird Tierschutz häufig falsch verstanden, und am laufenden Band werden Tiere vermittelt, ohne verantwortungsvoll überprüft zu haben, ob Hund und Mensch wirklich zueinander passen.
Ein passionierter Hütehund wird in einer Familie mit berufstätigen Eltern wohl nie sein Glück finden, ein Streuner aus der spanischen Pampa niemals ein zufriedenes Stadtkind sein und ein kaukasischer Herdenschutzhund keineswegs in einer Wohnung glücklich werden. Und doch beweisen unzählige positive Beispiele: Wer sich verantwortungsvoll mit der Wahl des richtigen Hundes auseinandersetzt, macht nicht nur sich selbst glücklich, sondern auch seinen vierbeinigen Gefährten – egal, welcher Herkunft.