Hilfe, mein Pubertier spielt verrückt!

Yvonne Theißen - Martin Rütter Hundeschule Erftstadt / Bergheim
Heute begrüße ich Sylvia und Sam zum Einzeltraining auf meinem Trainingsgelände. Sam ist ein, inzwischen stattlicher, 9 Monate alter Labrador-Mix Rüde. Sylvia ist mit ihrem Sam bereits seit der Welpenzeit bei mir im Training. In der Welpengruppe gehörte Sam zu den „Vorzeige-Welpen“, begeistert machte er alle Übungen mit und kam sogar aus dem wildesten Spiel, wenn Sylvia ihn rief, denn schließlich gab es dann die – typisch Labrador – „heiß begehrte“ Futterbelohnung. Es folgte der Junghundekurs, den die beiden mit viel Freude absolvierten. Sam war bei allen Übungen sehr aufmerksam und reagierte eifrig und mit viel retrievertypischem „will to please“ auf Sylvias Signale. Ich konnte in dieser Zeit zwar feststellen, dass Sam die anderen Hunde sehr spannend fand, insbesondere dann, wenn diese sich aktiv und dynamisch bewegen durften, er aber warten musste. Mit etwas Abstand konnte er die anderen Mensch-Hund-Teams aber gut ausblenden und sich auf das Training konzentrieren.
Inzwischen scheint sich jedoch etwas verändert zu haben, denn Sylvia bat mich mit den Worten: „Ich brauche Hilfe, mein „Pubertier“ spielt verrückt!“ um einen Einzeltermin.
Wir treffen uns daher auf meinem Trainingsgelände. Sam darf auf der Trainingswiese frei laufen, während Sylvia mir berichtet, wie anstrengend das Zusammenleben mit Sam für sie geworden ist. Ich höre Sylvia zu, beobachte dabei aber gleichzeitig Sam. Dieser läuft mit tiefer Nase schnüffelnd einmal rund um die Wiese. An einigen Stellen leckt er immer wieder einmal ganz intensiv, klappert mit den Zähnen und beginnt zu schmatzen, sodass ihm der Schaum aus dem Maul tropft. In diesen ersten 10 Minuten hebt er gut 20-mal das Bein, um zu markieren. Nicht selten scharrt er danach intensiv, einmal werden wir beide dabei sogar von den herumfliegenden Erdklumpen getroffen. Man merkt Sylvia an, dass ihr spätestens jetzt Sams Verhalten peinlich ist. Sie versucht ihn zu sich zu rufen, doch er ignoriert sie vollkommen. „Siehst du? Jetzt provoziert er mich wieder! Er hat mich doch genau gehört, er ist ja nicht taub! Und er weiß ja, was er machen soll, wenn ich ihn rufe. Den Rückruf haben wir doch tausendmal geübt. Es scheint, als habe er alles das, was wir in den letzten Wochen bei dir trainiert haben, vergessen.“ Von „will to please“, also dem Verlangen, mit dem Menschen zusammen zu arbeiten, ist bei Sam nichts mehr zu sehen. Er setzt sich auf das Signal „Sitz“ nach mehrfacher Aufforderung von Sylvia zwar hin, doch als Sylvia ihm den Rücken zudreht und sich für eine Bleib-Übung entfernen will, steht er einfach auf und schlendert in die andere Richtung. Ich bitte sie, Sam anzuleinen, und mit ihm ein Stück weiter zum Sitzplatz zu kommen, damit wir sein Verhalten und das weitere Training in Ruhe besprechen können. Sylvia leint Sam an, der sich davon nicht stören lässt und weiter an einer für ihn spannenden Stelle schnüffelt. Sylvia fordert ihn auf, mitzukommen, doch Sam bleibt einfach wie ein „störrischer Esel“ stehen. Weder Locken mit einem Leckerchen, das der sonst so verfressene Labrador-Mix nicht einmal annimmt, noch Zug auf der Leine, weil Sylvia einfach losgeht, bewirken etwas. Plötzlich scheint Sam den Geruch ausreichend untersucht zu haben, denn er folgt Sylvia zügig. Doch keine zwei Schritte später kommt ihm ein neuer spannender Geruch in die Nase und er springt in die Leine, sodass Sylvia ihn kaum noch halten kann. „Meine Schulter tut mir schon richtig weh, und ich habe Angst, dass er sich irgendwann einmal losreißt. Nicht auszudenken, wenn dann eine Straße in der Nähe ist. Das kann ja auch gefährlich werden, so geht es doch nicht mehr weiter! „Was mache ich denn nur falsch?“ wendet sie sich verzweifelt an mich.
Natürlich muss ich Sylvia nun erst einmal zustimmen, sie braucht Hilfe. Sylvia muss lernen, wie sie mit Sam umgehen soll. Dennoch sehe ich Sams Entwicklung ganz entspannt und bin weit davon entfernt, Sylvia die Schuld an Sams Verhalten zu geben, weil sie beispielsweise nicht genug oder das Falsche trainiert hat. Denn Sam ist einfach nur in der Pubertät, einer ganz normalen Entwicklungsphase beim Hund, die wir Menschen auch von unseren Jugendlichen kennen.
Die Pubertät beginnt beim Hund je nach Rasse und Größe etwa zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat. Kleinere Rassen, wie z. B. Malteser oder Yorkshire Terrier, treten früher in diese Phase ein, bei größeren Rassen wie der Deutschen Dogge beginnt die Pubertät später. Bei der Hündin ist der Beginn dieser Phase eindeutig erkennbar, sie wird das erste Mal läufig und damit geschlechtsreif. Viele Hündinnen bluten in der ersten Läufigkeit sehr stark, sodass das Einsetzen der Blutung meist nicht übersehen wird. Mit der Läufigkeit gehen nicht selten Wesensveränderungen einher. Häufig kann sich die Hündin schlechter konzentrieren. Je nach Persönlichkeit wird sie ruhiger und anhänglicher oder aktiver und extern orientierter. Es kann vorkommen, dass sich die junge Hundedame auf dem Spaziergang wie eine Furie benimmt, andere Hunde anbellt und kaum zu bändigen ist.
Beim Rüden wird es da schon schwieriger, es lässt sich kein fixer Zeitpunkt bestimmen. Zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife beginnt der Rüde das Bein zu heben, wenn er uriniert. Er sucht sich nun gezielt Stellen aus, die er mit seinem Urin markieren will. Das Urinieren dient fortan also nicht mehr ausschließlich dem Sich-lösen. Doch auch das Markieren will gelernt sein, und so hebt der Rüde das Bein anfangs nur ein wenig, und auch nicht bei jedem Urinieren. Nicht selten fällt er manchmal dabei um, auch hier heißt es daher: Übung macht den Meister.

Doch was passiert in dieser Phase nun eigentlich?
Alles beginnt mit der Bildung des Gonadotropin Releasing Hormons, kurz GnRH. Dieses aktiviert die Freisetzung der Geschlechtshormone aus den Geschlechtsorganen des Hundes, beim Rüden wird Testosteron, bei der Hündin Östrogen und später Progesteron gebildet. Der junge Hund kann sich nun theoretisch fortpflanzen. Genauso wie beim Menschen hat er aber in diesem Alter noch nicht die geistige und emotionale Reife erlangt, um Nachwuchs wirklich verantwortungsvoll groß zu ziehen. Verantwortungsvolle Züchter:innen planen einen Wurf daher frühestens in der dritten - noch besser sogar in der vierten - Läufigkeit, genauso wie ein Rüde frühestens dann als Deckrüde eingesetzt werden sollte, wenn er das Alter erreicht hat, in welchem eine Hündin dieser Rasse ihre dritte bzw. vierte Läufigkeit hatte.
Dennoch, genauso wie viele Jugendliche in dieser Zeit ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, sind auch die pubertierenden Hunde vom jeweils anderen Geschlecht fasziniert. Kein Wunder also, dass Sam jede Pipistelle einer Hündin genau untersuchen muss. Hierbei nutzt er das Jacobsonsche Organ hinter den Schneidezähnen, mit welchem chemische Gerüche von Sozialpartnern aufgeschlüsselt werden können. Das Organ wird immer dann aktiviert, wenn er am Urin anderer Hunde leckt und anfängt, mit den Zähnen zu klappern. Da wir Menschen dieses Organ nicht besitzen, ist es kein Wunder, dass wir das Verhalten des Hundes in dieser Situation kaum nachvollziehen können und oftmals so wenig Verständnis dafür zeigen.
Wenn die Hormone übernehmen …
Der Anstieg der Geschlechtshormone führt nun zu einer Reihe weiterer Reaktionen im Körper des Hundes. So kommt es zu zahlreichen Um-, Ab- und Aufbauprozessen im Gehirn. Der Ausbau der Myelinscheide, der Umhüllung der Nervenfasern, führt zu einer schnelleren Reizweiterleitung, einem entscheidenden Faktor bei Lern- und Denkprozessen. Zudem gilt: „Use it, or loose it!“ Nervenzellen werden abgebaut, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Übrigens ein wichtiger Hinweis darauf, dass nicht nur dem Welpen eine Vielzahl an Reizen geboten werden muss. Die Sozialisierung und Prägung muss also vielmehr durchgängig mit dem Junghund bis zum Erwachsenwerden weiter fortgeführt werden.
Ziel der Umbauprozesse ist die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gehirns, es soll deutlich effektiver werden. Die Umgestaltung im Gehirn führt zu einer neuen Verteilung der Zuständigkeiten. Bisher hat der Hund Entscheidungen „kindlich“ getroffen, d. h. emotional und „aus dem Bauch heraus“. Verantwortlich dafür ist das limbische System, welches für emotionale Reaktionen zuständig ist. Die Umbauprozesse betreffen zu einem Großteil das Frontalhirn. Dieses liegt im Stirnbereich der Großhirnrinde und ist für strategisches Denken und Handeln zuständig, und damit auch dafür, die eigenen Impulse zu kontrollieren. Zukünftig, also mit Abschluss der Pubertät bzw. am Ende der Jungerwachsenenphase, werden die Entscheidungen des Hundes rationaler getroffen, das Verhalten wird „erwachsener und vernünftig“. Doch noch ist es nicht so weit, und so fallen dem pubertierenden Hund gerade Handlungen, für die Impulskontrolle notwendig ist bzw. bei denen Risiken abgewogen werden müssen, eher schwer. Wenn Sam also auf einmal nicht mehr sitzenbleibt, wenn Sylvia ihm das „Bleib“ signalisiert, ist weder Sturheit noch bewusste Provokation von Sam die Ursache. Sam kann einfach gar nicht anders handeln! Impulsive Handlungen, ohne sich über die Folgen bewusst zu sein, sind dagegen an der Tagesordnung. Kein Wunder, wenn Sylvia der Arm weh tut, weil Sam immer wieder plötzlich und mit voller Wucht in die Leine springt, weil er etwas Interessantes gehört, gesehen oder gerochen hat.
Hinzukommt, dass der Dopaminspiegel während der Pubertät am höchsten ist. Der Botenstoff Dopamin wird häufig als die Selbstbelohnungsdroge bezeichnet und führt daher dazu, dass selbstbelohnendes Verhalten beim pubertierenden Hund im Vordergrund steht. Der junge Hund ist also immer auf der Suche nach dem nächsten „Dopamin-Kick“ – ein Verhalten, das wir ja durchaus auch beim Menschen kennen: Kein Risiko scheint dem Jugendlichen zu groß, alles Neue reizt ihn und muss ausprobiert werden! Beim Hund führt dieses gesteigerte Neugierverhalten dazu, dass sich der Radius vergrößert, der Hund nabelt sich ab, er will eigene Wege gehen. Denn wer möchte in dieser Lebensphase gern noch an Mamas Rockzipfel hängen? Und auch Sam reagiert seit einiger Zeit nicht mehr auf Sylvias Rückruf. Nicht nur Urinmarkierungen von Hündinnen scheinen ihn zu faszinieren, auch die Spuren der Kaninchen auf dem Feld ziehen ihn in den Bann. Vor ein paar Tagen ist er sogar einem Hasen hinterhergelaufen. Sylvia konnte rufen, pfeifen und mit der Leberwursttube winken, Sam ignorierte sie komplett. Quer über das Feld ging die wilde Hatz und dann sogar über die nahe liegende Straße. Sylvia blieb fast das Herz stehen, als sich aus der Ferne ein Auto näherte. Zum Glück waren auf der anderen Straßenseite Menschen, die mit ihrem angeleinten Hund spazieren gingen. Begeistert begrüßte Sam den kleinen Mischling, das Interesse am Hasen war vorbei, sodass Sylvia ihn einfangen und anleinen konnte.
Alltag und Training werden angepasst
Damit ist klar, dass Sam nun zunächst einmal auf dem Spaziergang an der Schleppleine laufen wird, Freilauf ist nur in eingegrenzten Bereichen möglich. Dabei geht es zum einen darum, Sam vor den Risiken seines Verhaltens zu beschützen. Zudem soll er keinen Spaß am „eigenständigen Jagen“ entwickeln. Denn im Unterschied zu einem Jugendlichen, der sich von den Eltern abnabeln will, selbstständig werden und sein eigenes Leben führen soll, übernimmt der Mensch für den Hund zeitlebens die Elternrolle. Der Hund soll in der Pubertät also erfahren, dass der Mensch seine Bedürfnisse erkennt und ihm die Erfüllung dieser ermöglicht. Sylvia wird in der nächsten Zeit daher viele Jagdspiele mit Sam durchführen: Fährte, Mantrailen, Suche, Apportiertraining oder Reizangeltraining, es gibt genug Varianten, welche die unterschiedlichen jagdlichen Aspekte berücksichtigen. Der Mensch muss dem Hund durch sein Handeln verdeutlichen, dass dieser weiterhin in der Gruppe erwünscht ist. Denn eine Abwanderung, wie sie bei wildlebenden Hunden durchaus vorkommt, steht ja außer Frage!

Beim Training achtet Sylvia genau auf Sam. Kann er sich gerade konzentrieren? Prima, dann kann sie durchaus schwierigere Übungen durchführen. Ist er unkonzentriert und lässt sich von allem ablenken? Okay, dann gibt es nur wenige, ganz einfache Übungen. Anstelle eines langen Trainings nimmt Sylvia ihn mit auf eine Radtour oder es gibt einen Ausflug zum See, sodass Sam körperlich gefordert wird. Wichtig ist jetzt, dass die beiden Spaß zusammen haben.
Das gilt auch für den Alltag der beiden. Konflikten soll Sylvia - soweit es geht - aus dem Weg gehen und sich auf Diskussionen mit Sam gar nicht erst einlassen. Gerade das fällt vielen Menschen jedoch häufig schwer. Wie oft fragen mich Kunden oder Kundinnen, ob ich ihre Hunde nicht bis nach der Pubertät nehmen könnte. Ich werde dann nicht müde zu erläutern, warum es so wichtig ist, dass Hund und Halter:in diese Phase gemeinsam durchleben und daran wachsen bzw. in dieser Zeit zusammenwachsen. Denn wenn der junge Hund nun erfährt, dass der Mensch sein verlässlicher Partner ist, der ihm Sicherheit bietet und seine Bedürfnisse wahrnimmt, wird er sich auch als erwachsener Hund an ihm orientieren. Sylvia muss nun also viel Verständnis für Sam zeigen und Geduld mit ihm haben, denn Sams Reaktionen sind keinesfalls bewusst gesteuert. Sam ist weder stur noch provokant, die Hormonparty im Körper lässt ihn zwischen Unsicherheit und Provokation schwanken und führt zu erhöhter Stressanfälligkeit. Damit Sam Sicherheit erfährt, muss Sylvia konsequent sein. Konkret soll Sylvia dazu alle im Alltag aufgestellten Regeln noch einmal überprüfen, sinnvolle Regeln können je nach Umfeld variieren. Besuch, insbesondere Kinder, nicht anzuspringen oder erst auf Signal aus dem Auto auszusteigen, gehören dabei beispielsweise zu den sinnvollen Regeln, um Verletzungen zu vermeiden und gegebenenfalls Leben zu retten.
Für Sylvia gibt es also Aussicht auf Besserung. Mit dem Wissen um die Prozesse im Hundekörper und der veränderten Einstellung zu Sams Verhalten hat sie nun das nötige Handwerkszeug, um gut durch diese Phase zu kommen. Sie freut sich jedoch jetzt schon sehr auf den erwachsenen Sam!