Der ängstliche Hund - „Werde zum sicheren Schutzschild Deines Hundes“
Es ist ein heiterer und ruhiger Frühlingstag. Frau Weber und ihr Hund Robbi sind gerade auf der abendlichen Gassirunde Eigentlich ist es ein schöner Abend, bis Robbi plötzlich stark zu hecheln anfängt und in Richtung Auto zieht. Der Grund für Robbis Verhalten ist nicht sofort zu erkennen. Frau Weber versteht ihn aber, als auf einmal ein Heißluftballon hinter der nächstgelegenen Hügelkette aufsteigt. Robbi hatte diesen einige Minuten zuvor wahrgenommen. Inzwischen weiß Frau Weber aus Erfahrung, wie sie in solchen Situationen reagieren muss, um Robbi möglichst schnell zu helfen. Sie gestaltet die gemeinsamen Runden so, dass sie nie allzu lange zum Auto als dem sicheren Rückzugsort braucht. Dennoch leidet Robbi sehr unter seiner Angst, da seine Familie und er in einem Dorf leben, welches häufig von Heißluftballons überflogen wird.
Warum entwickeln Hunde so unterschiedliche Ängste?
Wie Robbi geht es leider vielen Hunden – die Angst vor einer Situation, vor Gegenständen oder Menschen sowie Hunden beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich. Es gibt viele Gründe für ängstliches Verhalten von Hunden. Sowohl die gemachten Erfahrungen als auch die unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen von Geburt an beeinflussen den Hund.
Zunächst ist es ein großer Unterschied, ob ein robusterer Hundetyp, wie etwa ein Australian Cattle Dog, der bei seiner Arbeit an Rindern nicht empfindlich sein darf, mit visuellen oder akustischen Reizen konfrontiert wird, oder ob ein Border Collie, der auf kleinste Signale des Schäfers achten und beim Ausbrechen der Schafe schnell reagieren muss, sich mit derselben Herausforderung auseinandersetzen muss. Solche Eigenschaften, also Robustheit oder feines und schnelles Reagieren, werden bei der Zucht der jeweiligen Hunderassen berücksichtigt. Aufgrund der genannten Eigenschaften ist ein Hütehund in der Regel schneller zu traumatisieren und zeigt damit tendenziell häufiger Angstverhalten als ein Treibhund.
Zu den genetischen Voraussetzungen ist auch wichtig, welche Erfahrungen ein junger Hund in seiner Welpenstube sammelt und welche Beobachtungen er bei der Reaktion der Mutterhündin auf Umweltreize erlebt. So wird sich ein Welpe, der mit einer ängstlich gegenüber Männern eingestellten Mutter aufwächst und beobachtet, wie diese auf Männer unsicher reagiert, auch eher skeptisch und vorsichtig Männern annähern, dem Vorbild der Mutter folgend. Für den Welpen ist klar: Wenn Mama Angst vor Männern hat, müssen diese ja offensichtlich gefährlich sein. Während seriöse Züchter deswegen auf die Verpaarung von umweltsicheren Hunden Wert legen und bereits im frühen Welpenalter auf bestmögliche Sozialisation der Welpen achten, können gerade Hunde, die über Tierschutzorganisationen den Weg nach Deutschland finden, erhebliche Defizite beim Umgang mit verschiedenen Umwelteinflüssen haben.
Dafür verantwortlich sind neben den vererbten Voraussetzungen häufig die reizarmen Umstände des Aufwachsens und oftmals schwierige Erfahrungen in der sogenannten sensiblen, frühen Lebensphase des Hundes. Die in dieser Zeit gemachten Erfahrungen, jedoch auch fehlende Umweltreize – vor allem bei einem auf dem Land groß gewordenen Straßenhund in Bezug zur Hektik und dem Trubel in unserer Zivilisation mit Großstädten, starkem Verkehr und vielen Menschen, Hunden und Geräuschen – haben wesentlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Hundes.
Was kann ich tun? Zuerst einmal den Tierarzt aufsuchen
Nicht außer Acht zu lassen sind Ursachen für Ängste, die im physiologischen Bereich liegen: Hormonstörungen, Vergiftungen oder Schmerzen. Eine umfassende Untersuchung beim Tierarzt, inklusive Blutbild und Untersuchung der Schilddrüse, sollte bei starkem Angstverhalten immer begleitend zu einem Training folgen, ist vor allem aber dann ratsam, wenn Angstverhalten ansonsten schwer erklärbar scheint. Als Hundehalter hat man aber auch eine Reihe von Möglichkeiten, dem Hund zu helfen: Zunächst gilt es zu verstehen, wie wichtig es ist, dass ein Hund ein hohes Maß an Vertrauen zu seinem Menschen entwickelt. Hunde beobachten sehr genau, wie sich der Mensch im Alltag und außerhalb angstauslösender Situationen verhält.
Souveränes, berechenbares und vertrauensvolles Handeln des Menschen stellt die Basis für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Mensch und Hund dar. Vor allem bei Hunden aus dem Ausland neigen wir Menschen dazu, dem geretteten Vierbeiner ein zu hohes Maß an Zuneigung zu schenken und manchmal sogar grenzenlose Freiheiten zu gewähren. Dabei ist es bei ängstlichen Hunden besonders wichtig, dass diese sich in einem sicheren sozialen Gefüge aufgehoben fühlen – und hierzu gehören Regeln und klare Strukturen im Zusammenleben. Dies bedeutet zum Beispiel, nicht immer für eine Schmuseeinheit erreichbar zu sein, wenn es der Hund will. Grundsätzlich sollte der Hund erkennen können, dass nicht er es ist, der innerhalb der Familie die Entscheidungen trifft. Nur so wird er sich auch in kritischen Situationen an seinen Menschen orientieren und ein höheres Maß an Entspannung im Alltag erleben.
Auslandshunde brauchen ein ganz spezielles Training
Immer wieder arbeite ich mit Hunden, die mit geringen Erfahrungswerten hinsichtlich Menschen und unserer städtischen Lebenswelt nach Deutschland kommen. Respekt vor dem Lebewesen Hund und seiner Lebenssituation sowie Geduld im Alltag und Training müssen hier an erster Stelle stehen. Wie zuvor beschrieben, ist auch liebevolle Konsequenz im ständigen Miteinander wichtig, um vom Hund als Orientierungsperson ernst genommen zu werden.
Ein Hund, der vor vielem Angst hat, sollte stets erkennen können, dass er sich auf seinen Menschen verlassen kann. Dazu gehört einerseits, dass dieser ihn nicht überfordert und in unlösbare Situationen hineinzwingt, anderseits, dass er dem Hund in schwierigen Momenten Schutz bietet. Unbekanntes Terrain sollte deswegen als Erstes durch den Menschen betreten werden, und auch beim Kontakt mit fremden Personen geht der Mensch voran und klärt so aus Hundesicht die Lage durch aktives Handeln.
Ein erster Schritt zur Gewinnung von Vertrauen kann sein, das Futter aus der Hand zu geben. Auch wenn es manchmal extrem erscheinen mag, so ist dies doch der einfachste Weg, schnell eine herausgestellte und sehr positive Rolle im Leben des Hundes einzunehmen. Später nutzt man einen Teil des Futters für kleine Übungen im Training. Ob es sich dann um einfache Futtersuchspiele handelt oder es im fortgeschrittenen Training der Aufbau des Apportierens ist: Gemeinsames Arbeiten schafft Vertrauen und ruft positive Gefühle hervor. Auch das Erlernen kleiner Tricks oder Aufgaben für die Hundenase erzeugen schöne gemeinsame Momente. Einige Monate später kann auch das Führen des Hundes auf Distanz an einem Longierkreis hilfreich sein, um das gegenseitige körpersprachliche Verständnis zu erhöhen.
Das gemeinsame Erarbeiten von Futter beginnt man zunächst im vertrauten Bereich der Wohnung bzw. des Hauses. Später kann es auch draußen durchgeführt und von da aus in weitere Bereiche des alltäglichen Lebens verlagert werden. Anfangs vielleicht in einen ruhigen Siedlungsbereich oder aufs entlegene Feld. Nach und nach lassen sich daraufhin die Schwierigkeiten erhöhen, es können angstauslösende Reize eingeblendet werden, sodass diese durch den Hund anders bewertet werden als zuvor.
Die Arbeit gegen die Angst erfordert Wissen, Zeit und Geduld
Lassen sich konkrete Auslöser für ängstliches Verhalten finden – gerade hier kann ein professioneller Trainer von hohem Nutzen sein –, so kann gegen diese Ursachen häufig im gut aufgebauten Training gearbeitet werden. Dabei ist es wichtig, schrittweise und kontrolliert den Hund mit dem einzelnen Reiz oder nacheinander mit den verschiedenen Auslösern in Kontakt zu bringen und diese Momente positiv zu gestalten. Dies kann über eine angenehme Beschäftigung, etwa ein Apportierspiel, ein körperliches Spiel oder auch eine Schmuseeinheit in sicherer Entfernung erfolgen. Nach und nach wird im Trainingsverlauf der Abstand zum angstauslösenden Reiz verringert, ohne den Hund zu überfordern.
Zum richtigen Zeitpunkt ist das Training zu unterbrechen. Man sollte sich dem angstauslösenden Reiz immer nur so weit annähern, wie der Hund ihn zwar bemerkt, aber noch in der Lage ist, sich auf seinen Menschen und die Beschäftigung mit ihm einzulassen. Hierbei sind Kenntnisse zu Körpersprache und Kommunikation von Hunden von enormer Bedeutung. Sogenannte Übersprunghandlungen, wie Gähnen, sich Kratzen, Niesen oder sich Schütteln, signalisieren, dass das Training an einem Punkt angelangt ist, der nicht weiter überschritten werden sollte. Spätestens dann, wenn möglich bereits zuvor sollte eine Pause eingelegt oder das Training mit einer abschließend erfolgreichen Übung sogar beendet werden. Nun ist es ebenso wichtig, dem Hund Zeit zu geben, die positiven Erfahrungen zu verarbeiten. Da auch der Abbau des Stresshormons Cortisol Zeit braucht, ist es sinnvoll, mindestens ein, zwei Tage zu pausieren, bevor das Training in Bezug auf die angstauslösenden Reize fortgesetzt wird. Natürlich darf und sollte der Hund an diesen „Pause-Tagen“ mit angenehmen Spaziergängen oder einem stressfreien Training in entspannter Umgebung ausgelastet werden.
Bei generalisierter Angst braucht man einen Trainer als Helfer
Sind es nicht konkrete Situationen, in denen der Hund ängstlich reagiert – zum Beispiel bei einer allgemeinen Angst des Hundes vor Männern –, so sollte man an unterschiedlichen Orten und mit vielen verschiedenen Trainingspartnern üben. Man braucht also eine größere Anzahl von Männern in sich deutlich voneinander unterscheidenden Situationen. Zunächst wird schrittweise darauf hingearbeitet, die Anwesenheit von Männern im Allgemeinen zu akzeptieren, später können Männer in fortgeschrittenen Trainingsphasen in das Training mit einbezogen werden: durch das Werfen von Futterstücken oder eines begehrten Apportiergegenstandes. Gerade in diesem Trainingsschritt ist es wichtig, darauf zu achten, dass die männlichen Trainingspartner eine nicht bedrohliche Körperhaltung einnehmen. Sind mehrere Auslöser für die Angstreaktion verantwortlich, werden diese erst einzeln trainiert und dann schrittweise strukturiert zusammengeführt. Spätestens hier ist die Unterstützung durch einen kompetenten Trainer deutlich geraten. In einer idealen Welt wäre die Arbeit an angstauslösenden Situationen möglich, ohne dass unkontrollierte Konfrontationen entstehen. Doch kommt es im realen Leben immer wieder auch zu ungünstigen Momenten, zum Beispiel einem sich im Wald lösenden Schuss oder wie in Robbis eingangs beschriebenem Fall, wenn unerwartet ein ihm Angst machender Heißluftballon aufsteigt.
Umso wichtiger ist es dann, dem eigenen Hund zu signalisieren, den Auslöser der Angst selber auch wahrgenommen zu haben und mit sicherem Vorbild in der Situation zu stehen. In derartigen Situationen als Schutzschild und Puffer zu agieren, ist zudem hilfreich. Mein Hund darf und sollte Schutz bei mir finden können.
Auch wenn es in Ordnung ist, Körperkontakt zuzulassen, darf die Angstreaktion jedoch nicht durch mitleidige Zuwendung, mit der die Situation für den Hund besonders hervorgehoben wird, verstärkt werden. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass für den Hund angenehm empfundene Maßnahmen wie eine Massage oder Streicheleinheit verboten sind. Vielmehr lösen diese, gerade wenn der Sozialpartner Mensch für den Hund vertrauenswürdig und orientierungsgebend wahrgenommen wird, das Wohlfühl- und Bindungshormon Oxytocin aus und können somit zu deutlicher Entspannung des Hundes führen.
Frau Weber hat durch die Begleitung eines ausgebildeten Hundetrainers gelernt, ihren Hund und sein Verhalten in Angstsituationen zu verstehen und kompetent zu handeln. Sie hat aber auch im sonstigen Alltag ein vertieftes Verständnis dafür entwickelt, welche Aufgaben im Zusammenleben mit Robbi für diesen wichtig sind. So werden Menschen, die zu Besuch kommen, von Frau Weber in Empfang genommen, während Robbi zunächst auf seiner Hundedecke wartet. Diese neue Rollenverteilung hat ihm sehr geholfen, sich stärker an Frau Weber zu orientieren, da sie in für ihn wichtigen Lebensbereichen die Führung übernommen hat. Situationen mit den gefürchteten Heißluftballons konnten über den Einsatz des Futterbeutels und attraktive Suchaufgaben innerhalb von anderthalb Jahren trainiert werden, sodass Robbi diese zumindest in mittlerer Entfernung inzwischen gut ertragen kann. Wesentlich hierbei war, die Momente unkontrollierter Begegnungen mit Heißluftballons bestmöglich zu reduzieren und so das Training schrittweise und geplant durchführen zu können.
Der Weg mit ängstlichen Hunden, unabhängig davon, ob diese Ängste durch Erfahrungen erworben wurden oder in mangelnder Sozialisation begründet sind, ist langfristig und oft nicht leicht – die Mühe aber in jedem Falle wert.
Maßnahmen zur Unterstützung
Zusätzlich zu den zuvor genannten Trainingsvorschlägen gibt es weitere Möglichkeiten, dem eigenen Hund bei der Arbeit gegen die Angst beizustehen.
• So kann in den zuvor beschriebenen Trainings die Anwesenheit eines sozial sicheren, erwachsenen Hundes hilfreich sein, an dessen Vorbild sich der ängstliche Hund orientieren kann
• Eine weitere unterstützende Maßnahme stellt das künstlich hergestellte Pheromon Adaptil dar. Hierbei wird der Hund über ein Halsband oder verschiedene Duftzerstäuber an seine Zeit bei der Mutter erinnert. Über diesen Wohlfühlgeruch und dessen Wirkung lässt sich ebenfalls ein gewisses Maß an Entspannung erreichen
• Lässt sich voraussehen, dass es zu einer schwierigen Phase, etwa in der Zeit des Jahreswechsels, kommt, so kann ein eng anliegendes T-Shirt – das sogenannte Thundershirt – von Nutzen sein
• Auch Nahrungsergänzungsmittel, wie z. B. die zusätzliche Gabe der Aminosäuren L-Tryptophan oder des Milcheiweißproduktes Zylkene, können dem Hund helfen, grundsätzlich gelassener im Alltag zu werden
Auf die Körpersprache achten
Im täglichen Miteinander ist es ungemein wertvoll, die Körpersprache von Hunden lesen zu können und auch um die eigene Wirkung zu wissen. Beispielsweise, dass Annäherungen direkt und frontal auf den Hund zu, ein längeres Anschauen oder das Hinunterbeugen oft stark bedrohlich wirken. Ein wohlmeinender Mensch macht genau dies oft falsch, wenn er sich einem unbekannten, aber als ängstlich beschriebenen Hund zuwendet, diesem in die Augen schaut und mit treuem Gesichtsausdruck, aber konfrontierender Körperhaltung versichert: „Du brauchst doch keine Angst haben!“ Die Menschenkörpersprache ist deshalb wichtig.