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Stress lass nach – Resilienz bei Hunden

Marcel Wunderlich - Martin Rütter Hundeschule Wiesbaden / Main-Taunus-Kreis

Unsere Hunde müssen in unserem gemeinsamen Alltag mitunter einiges aushalten. Dabei meine ich nicht nur gravierende Einschnitte wie etwa den Verlust der Bezugsperson. Auch scheinbar harmlose Begegnungen können den ein oder anderen Vierbeiner erschüttern. 

In einer Gruppenstunde unseres Alltagstrainings besuchten wir ein Einkaufszentrum. Es war insgesamt noch wenig los. Während einer Übung, bei der die Hunde neben ihren Menschen warten sollten, kam plötzlich ein kleiner „Zug“, eine Attraktion für die jüngsten Besucher, um die Ecke. Noch waren die Wagen wenig besetzt, und so fuhren die scheppernden Waggons zügig an den wartenden Mensch-Hund-Teams vorbei. Die acht Monate alte Labrador Retriever Hündin machte beim Anblick dieser Überraschung einen Satz zurück, blickte dann mit unsicherer Körperhaltung den vorbeifahrenden Zug an und bellte nach dem letzten Waggon mit einem Sprung nach vorne noch kurz hinterher. Dann ein Blick zu Frauchen, die daraufhin „Sitz“ sagte und das sogleich ausgeführte Signal mit einem Lächeln und Futter belohnte.

Der einjährige Vizsla-Rüde neben der Hündin sprang bei Ankommen des Zuges ebenfalls auf, versuchte dann trotz Leine in alle möglichen Richtungen zu laufen, sprang Richtung Frauchen und äußerte seinen Frust über das Geschehen schließlich laut bellend. Noch einige Minuten nach dieser Situation, sprang er immer wieder auf, um schnellwechselnd auf dem Boden zu schnüffeln, an Frauchen hochzuspringen oder sie in einen der Läden zu ziehen.

Resilienz

Die beiden Hunde in dieser Szene reagierten unterschiedlich „resilient“ auf dieselben äußeren Umstände. Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, in stressigen Situationen angemessen zu reagieren und sich von ebendiesen schnell zu erholen (d. h. zum „Normalzustand“ zurückzukehren). Ein Hund mit geringer Resilienz kann folglich z. B. gesteigerte Aggression in der genannten Situation zeigen und seine Verunsicherung kann noch lange nach dem eigentlichen Stressreiz anhalten.

Während es zahlreiche Studien zur Stressforschung beim Hund gibt, findet der umfassende Blick unter dem Begriff der Resilienz erst seit einigen Jahren Einzug in die wissenschaftlichen Untersuchungen der Kynologie. Erkenntnisse zur Resilienz und Methoden zu deren Beeinflussung werden daher entsprechend von der Resilienzforschung mit Menschen und anderen Spezies abgeleitet.

Säulen der Resilienz

Das System zur Stressbewältigung ist komplex und das Ziel ist nicht, fortan jeglichen Stress zu vermeiden. Das „richtige“ Maß an Stress ist anregend und begünstigt somit eine angemessene Handlung und das Lernen aus der Situation. Um aber eine Überforderung oder dauerhaften Stress und damit langfristig körperliche und geistige Schäden zu vermeiden, machen sich „resiliente Hunde“ einige Ressourcen zunutze:

Die Sozialisierung in den ersten Lebenswochen ist entscheidend, denn dann sind die Welpen besonders empfänglich für neue Reize und können Erfahrungen besonders gut generalisieren. Wenn der Welpe vieles positiv kennenlernt, wird er diesen Lebewesen, Gegenständen, Orten, Situationen etc. gegenüber eher aufgeschlossen bleiben. Die Erfahrungen sollten insgesamt positiv sein, für den Welpen gut (!) zu bewältigende Stresssituationen können seine Resilienz aber stärken.

Da ein Welpe frühestens im Alter von acht Wochen bei seiner neuen Familie einzieht, ist auch der Züchter in der Verantwortung. Diese Verantwortung beginnt bereits mit der Auswahl der Elterntiere. Wenn sich die Mutter gut um ihren Nachwuchs kümmert, zeigen die Welpen insgesamt weniger negative Stressreaktion und sind allgemein aufgeschlossener. Ein schlechter Start ins Hundeleben, wie er teilweise bei Tierschutzhunden und grundsätzlich bei Welpen aus unseriöser Zucht erlebt wird, kann nur noch bedingt aufgeholt werden.

Übrigens beeinflussen auch die durch die Elterntiere vererbten Gene die Resilienz des Hundes. Es gibt einige Rassen, deren Vertreter mutig und sozial umgänglich sind – beides Eigenschaften, die in Studien mit erhöhter Resilienz korrelierten.

Kontrolle über das, was geschieht, erhöht die Anpassungsfähigkeit an belastende Situationen. In einer Studie zeigten die Hunde, die durch das eigene Handeln einem Schmerzreiz entfliehen konnten, kein auffälliges Verhalten, während die Hunde in der Kontrollgruppe schreckhaft und depressiv wurden. Studien mit menschlichen Probanden und Probandinnen lassen vermuten, dass gefühlte Kontrolle selbst dann förderlich ist, wenn nicht die eigentlich stressige Situation, sondern andere Bereiche kontrollierbar erscheinen.

Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten geht einher mit höheren Zielen sowie größerer Anstrengung bei der Verfolgung dieser Ziele trotz etwaiger Rückschläge. Für Menschen zeigten sich diese positiven Effekte in einer Studie sogar, wenn ihnen zu Beginn der Studie nur ein hohes Selbstvertrauen eingeredet wurde. Zusammen mit einer gesunden Option Optimismus zeigen Hunde einer Beobachtungsstudie zufolge im Alltag weniger „störendes Verhalten“ (z. B. Aggression) in einer bedrohlichen Konfrontation.

Impulskontrolle bedeutet, dass der Hund nicht immer impulsiv reagiert, sondern in der Lage ist, sich zurückzunehmen. In Studien fand man heraus, dass Hunde, die ihre Emotionen besser kontrollieren können als die Hunde der Vergleichsgruppe, deutlich variablere Herzschlagraten in stressigen Situationen aufwiesen. Diese Herzschlagvariabilität scheint ein Baustein der Resilienz zu sein, da er eine schnelle Anpassung an die Situation und anschließende Erholung erlaubt.

Eine innige, stabile Beziehung zur Bezugsperson begünstigte in mehreren Untersuchungen eine geringere körperliche Reaktion (Herzschlag, Cortisol) in stressigen Situationen. Besonders förderlich ist es dabei, wenn der Hund seinen Menschen bereits vorher als verlässlichen, beruhigenden Partner wahrnimmt. Der Effekt kann sogar anhalten, wenn die gemeinsam bewältigte, bedrohliche Konfrontation später noch einmal ohne Beisein des Menschen durchlebt wird. Darüber hinaus lässt ein herzlicher Umgang des Menschen mit seinem Hund, diesen eher Schutz beim Menschen suchen, während die Hunde ansonsten eher geneigt sind, ängstlich oder aggressiv auf die Bedrohung zuzugehen. Ähnlich positiv könnte sich auch eine entsprechende Beziehung zum souveränen Zweithund der Familie auswirken.

Resilienztraining

Resilienztraining

Durch ein paar Übungen vom Angsthasen oder aggressiven Nervenbündel zum immer-entspannten Alltagshelden? Die Persönlichkeit des Hundes wird sich durch Resilienztraining nicht grundlegend ändern. Durch Übungen im gemeinsamen Alltag von Mensch und Hund lässt sich die Resilienz aber aufbauen:

Impulskontrolltraining kann die Resilienz deines Hundes stärken und Impulskontrolle ist darüber hinaus in den unterschiedlichsten Situationen hilfreich: 

  • Wenn dein Hund sich nicht schon durch die halbgeöffnete Kofferraumtür drückt, um möglichst schnell den Spaziergang zu starten

  • Wenn dein Hund ohne dich anzuspringen darauf wartet, dass du ihm sein Spielzeug wirfst

  • Wenn dein Hund beim vorbeispringenden Eichhörnchen nicht zum Galopp ansetzt, sondern innehält und auf deine Reaktion wartet

  • etc.

In umso mehr Situationen dein Hund gelernt hat, seine Impulse zu kontrollieren, desto leichter kann er dies auf neue Situationen übertragen. 

Ein ruhiges Abwarten während des Aussteigens aus dem Auto kannst du deinem Hund z. B. beibringen, indem du die Autotür nur öffnest, wenn dein Hund wartet. Springt er auf, sobald die Tür einen Spalt weit offen ist, schließt du die Tür (Vorsichtig! Ohne den Hund einzuklemmen!) wieder und startest erneut, wenn dein Hund sich wieder zurücknimmt. Mehr Gelassenheit in Bezug auf sein Spielzeug kannst du deinem Hund z. B. beibringen, indem du ihn zunächst über sein bekanntes Bleib-Signal warten lässt, während du das Spielzeug in der Hand hältst. Schafft dein Hund das, steigerst du schrittweise den Reiz, indem du das Spielzeug auf den Boden legst, das Spielzeug hinter dir fallen lässt, das Spielzeug wegwirfst etc.

Das Festigen der Beziehung zu deinem Hund vermittelt diesem, dass du ein „sicherer Hafen“ für ihn bist, in den er sich im Zweifel auch zurückziehen kann. Um für deinen Hund ein verlässlicher, souveräner Bindungspartner zu werden, ist es wichtig, dass du ihn verstehst. Du solltest also die Körpersprache deines Hundes lesen lernen. Freut er sich z. B. auf das „Spiel“ mit dem Nachbarshund oder rennt er nur, weil er durch das stürmische Auftreten des anderen überfordert ist? Empfindet dein Hund das Tätscheln am Kopf wirklich belohnend oder würde ein Leckerli nach erfolgreichem Rückruf nicht eher zeigen, dass du weißt, was dein Hund mag?

Besonderes Augenmerk solltest du auf das Erkennen von Stresssignalen wie starkes Hecheln, erweiterte Pupillen oder eingeklemmte Rute legen. Nur so kannst du beurteilen, wie viel du deinem Hund ohne Unterstützung oder im Rahmen des Trainings sinnvoll zumuten kannst.

Das wichtige Verständnis für deinen Hund bedeutet nicht, dass du ihm jeden Wunsch erfüllen sollst. Durch konsequentes Auftreten und faire, aber klare Regeln bist du für deinen Hund verlässlicher. Und in unsicheren Situationen wendet man sich eher jemandem zu, der schon oft wusste, was zu tun ist. 

Gemeinsame Erlebnisse schweißen euch weiter zusammen. Die meisten Erlebnisse sollten dabei grundsätzlich positiv sein. Ihr dürft euch aber auch gern angemessene Herausforderungen suchen, die ihr gemeinsam bewältigen könnt.

Anregende Beschäftigung unterstützt das Training auf mehreren Wegen. Ähnlich wie beim Menschen hilft Auslastung beim Abbau des Stresspegels und beugt somit dauerhaft anhaltendem Stress vor. Zusätzlich fördert es das Verhaltensrepertoire deines Hundes, wenn er durch Kreativität zum Ziel kommt. Probiere ruhig mehrere Beschäftigungsmöglichkeiten aus, um herauszufinden, wie du deinen Hund angemessen auslasten kannst – und was euch beiden Spaß macht. Denn wenn sich dein Hund z. B. auf dem Spaziergang durch Buddeln vor allem selbst Beschäftigung sucht, verpasst du eine gute Möglichkeit, um die Kreativität deines Hundes durch Varianten gezielt zu fördern und durch gemeinsame Aktionen eure Bindung zu stärken. Des Weiteren zeigen Studien, dass gemeinsames Spiel nicht nur das Stresslevel des Hundes, sondern auch des Menschen senkt.

Das Selbstvertrauen deines Hundes kannst du stärken, indem dein Hund selbstständig Aufgaben meistert. Bei einigen Beschäftigungsformen, wie z. B. dem Mantrailen, erarbeiten Hunde den Weg zur versteckten Person ohne Anweisung des Menschen. Auch beim sogenannten „Intelligenzspielzeug“, bei dem der Hund durch Öffnen von Schiebern oder Ziehen an Seilen an das im Spiel versteckte Futter gelangt, machen Hunde die Erfahrung, dass sie selbst in der Lage sind, das Ziel (z. B. an das Futter zu kommen) zu erreichen. Und ist dein Hund in einer Situation mal nicht von sich überzeugt und meidet z. B. die dunkle Unterführung, kann er sich vielleicht doch noch überwinden, wenn er sieht, dass auch du dich traust, dort hindurchzugehen. Ziehe aber bitte deinen Hund nicht an der Leine hinein, er soll ja lernen, dir zu vertrauen und dich als positiv empfinden.

Die Kontrolle zu haben, ist für deinen Hund nicht in jeder Situation möglich. Da du dich mit deinem Hund in der „Menschenwelt“ aufhältst, sind einige Regeln vorgegeben. So darf dein Hund z. B. nicht selbstständig vom Bürgersteig auf die Straße laufen, um einer gruseligen Begegnung auszuweichen. Auch unangenehme tierärztliche Untersuchungen muss dein Hund über sich ergehen lassen. 

Du kannst ihm aber in beiden Beispielsituationen zumindest etwas Kontrolle ermöglichen. So solltest du ihm erlauben, in der gruseligen Begegnung selbstständig auf die abgewandte Seite neben dir zu wechseln, auch wenn du ihn davor und danach auf deiner anderen Körperseite an der Leine führst. 

Im Rahmen einer tierärztlichen Untersuchung kannst du deinem Hund durch ein zuvor aufgebautes Kooperationssignal Kontrolle zurückgeben: Augentropfen könntest du z. B. verabreichen, wenn dein Hund seinen Kopf ruhig ablegt; sobald er seinen Kopf hebt, hörst du auf, bis er wieder in der Lage ist, das Kooperationssignal „Kopf ablegen“ auszuführen. 

Ein konditioniertes Entspannungssignal kann helfen, nach einer stressigen Situation wieder zum „Normalzustand“ zurückzufinden. Ein solches Signal kann z. B. ein Wort sein, welches du immer in entspannten Situationen zu deinem Hund sagst. Wenn du dieses Wort nun in weniger entspannten Situationen verwendest, kann dein Hund damit Entspannung verknüpfen und diese leichter auch körperlich herbeiführen.

Zusätzlich sind ausreichende, über den Tag verteilte, Ruhephasen wichtig, damit dein Hund gelernte Situationen verarbeiten und sich vor der nächsten aufregenden Situation regenerieren kann.