Die Top 10 Hunde-Irrtümer (Teil 2)
Beim letzten Mal haben wir uns mit Teil 1 der am meisten verbreiteten Hundeirrtümer befasst: Ist Schwanzwedeln wirklich immer ein Ausdruck von Freude? Brauchen große Hunde wirklich Haus und Garten?
Nun geht es weiter mit den Stammtischweisheiten und Mythen rund um Hund und richtige Haltung. Gibt es bei Hunden tatsächlich Sturheit und muss ich als Mensch immer zuerst essen und durch die Tür gehen, um meine Rudelchef-Qualitäten unter Beweis zu stellen? Darf man kleine Hunde hochheben, wenn sie bellen oder verstärkt das nur ihr Verhalten? Wie reagiert man am besten, wenn man von einem Hund angesprungen wird? Und ist das Riechen wirklich der wichtigste Sinn für einen Hund? Lasse Dich überraschen...
6. "Kleine Hunde darf man nicht hochheben."
Der Nummer-1-Mythos, wenn es um kleine Hunde geht. Und wenn man es dann doch tut, wird man belehrt und manchmal sogar beschimpft. Liebe Hundemenschen, die ihr dieser Meinung seid: Habt ihr euch schon mal vorgestellt, wie es ist, wenn ein Wesen, dass etwa 5 x so groß ist wie ihr, im Streckgalopp ungebremst auf euch zurennt? Nicht so ein gutes Gefühl, oder? Und dann stellt euch vor, ihr seid mit einem guten Freund unterwegs, der noch größer ist und die Möglichkeit hätte, euch vor einem blöden Vorfall zu schützen, aber immer nur sagt: „Das musst du lernen.“ Also mein Vertrauen zu diesem Freund wäre gebrochen. Und erst recht dann, wenn der auf mich zukommende Riese mich tatsächlich umkegelt und ich Glück habe, wenn ich mir nichts gebrochen habe bei seinem Gewicht.
Na klar, kleine Hunde gehören genauso wie große zu unserer Gesellschaft, haben in der Regel vier gesunde Beine, mit denen sie sich völlig normal fortbewegen können. Es ist einfach Humbug, sie in schicken Täschchen zu transportieren, weil man in der Kindheit ein bisschen zu wenig Baby Born gespielt hat. Dennoch gibt es Situationen, die für kleine Hunde gefährlich sind, wie etwa größere Menschenmengen, in denen sie z. B. gerne übersehen werden. Oder eben unkontrollierte Hundebegegnungen. Natürlich darf ein großer Hund mit „guter Kinderstube“ auch mal meinen kleinen Hund vorsichtig begrüßen, beschnüffeln usw. Wenn ich aber als Hundehalter schon 100 m gegen den Wind erkenne, dass ein entgegenkommender Hund die Grundregeln der Begegnung nicht gelernt hat, dann darf ich meinen kleinen Hund ruhig hochnehmen und ihn auf der jeweils abgewandten Seite ohne große Hektik und tröstende Worte ein paar Schritte tragen, bis die Situation sich wieder entspannt hat. Wichtig ist hier wirklich, frühzeitig zu reagieren und eben die Absichten anderer Hunde möglichst schon auf Distanz einschätzen zu können. Nur so kann ich mich auch meinem Hund gegenüber gelassen und souverän verhalten und Panik vermeiden, wenn es dann doch zur Sache gehen sollte.
7. "Der Mensch muss immer zuerst durch die Türe gehen."
Oh ja! Und man sollte tunlichst vor dem Hund essen und keinesfalls an einer niedrigeren Stelle Platz nehmen als der Hund. All diese Thesen beziehen sich auf irgendwelche Dominanztheorien aus den 80er-Jahren, die heute längst überholt sind. Wir leben mit Hunden in einem familienähnlichen Sozialverband – so wie es Wölfe und auch Hunde in der Natur tun. Und natürlich ist dort auch klar, wer Mama und Papa sind bzw. wer im Ernstfall das Kommando übernimmt und die Entscheidungen trifft. Dennoch dürfen die Kinder in einem menschlichen Familienverband auch ein Recht oder Privileg der Eltern genießen. Im Gegenteil: Die Einteilung und Verwaltung der wichtigen Ressourcen macht ja genau diese „Führungsqualitäten“ der echten Entscheider aus. Bei einem Rudel Hunde in freier Wildbahn wäre es übrigens so: Will die Mutter mit den Welpen einen Ausflug machen, verlässt sie die Wurfhöhle natürlich zuerst und checkt, ob die Luft rein ist. Wenn dem so ist, können die Kleinen langsam folgen. Am Ende des Abenteuers geht Mama natürlich nicht vor, sondern schafft erst einmal alle Welpen in die sichere Höhle zurück, um dann selbst das beschützende „Schlusslicht“ zu bilden. Die Grundidee von „der Mensch sollte immer vorgehen“ ist also nicht ganz falsch, jedoch geht es dabei ausschließlich darum, Sicherheit für die anderen zu bieten. Eine Mutter würde ihr 3-jähriges Kind ja auch nicht einfach so aus der Türe rennen lassen, sondern sich, je nach Wohnsituation, noch einmal vergewissern, dass draußen keine potenziellen Gefahren lauern. Für Hunde könnten dies auch noch im Erwachsenenalter Fahrräder, laufende Kinder oder andere Hunde sein. Für seinen Hund also vor dem Verlassen von „sicheren“ Gebieten immer abzuchecken, ob die Luft rein ist, kann also nie verkehrt sein.
8. "Mein Hund ist stur."
Diesen Satz höre ich als Hundetrainerin sicher einmal täglich. Und er löst immer wieder Unmut bei mir aus. Denn Hunden wird dabei eigentlich vorgeworfen, dass sie gewisse erwünschte Handlungsweisen des Menschen mit Absicht nicht ausführen wollen, um ihren „Dickkopf“ durchzusetzen. Im Duden findet man u. a. folgende Definition zum Begriff „stur“ vor: „nicht willens, sich auf etwas/jemanden einzustellen“. Es kann aber unmöglich die Absicht eines Hundes sein, seinem Menschen zu Fleiß etwas nicht zu tun. Vielmehr gibt es dafür oft andere Gründe: Erstens kann es sein, dass es sich schlicht um eine sehr selbstständig denkende oder agierende Rasse bzw. einen Mix daraus handelt. Viele Hunde wurden über Jahrhunderte auf sehr eigenständiges Arbeiten hin gezüchtet – der Dackel, der seinen Jäger 3-mal fragt, ob er in den Bau darf, um den Fuchs herauszu„sprengen“, hat seine Chance längst verpasst. Bei vielen Hunden ist also die enge Kooperationsbereitschaft mit dem Menschen bewusst vernachlässigt worden, um sie schnell und proaktiv denken und handeln zu lassen. Natürlich hinterfragt so ein Hund auch gerne einmal den Sinn hinter der Aufgabe, auf seinem Platz bleiben zu müssen oder einen Ball zu bringen. Einem solchen Hund muss man einfach gute und ihm würdige Angebote machen, davon gibt es – versprochen! – jede Menge.
Zweitens kann es schlicht damit zu tun haben, dass der Hund die Signale des Menschen noch nicht richtig versteht oder gelernt hat. Auch dies sollte immer wieder hinterfragt werden. Drittens ist die vermeintliche Sturheit auch häufig ein Zeichen für mangelnde Bindung. In jeder Partnerschaft oder Verbindung gibt es ein gegenseitiges Geben und Nehmen. In einem Arbeitsverhältnis erbringt der Angestellte eine Arbeitsleistung und bekommt dafür sein Gehalt – wenn es ihm Spaß macht und das Klima gut ist, umso besser. In einer Liebesbeziehung gibt man auch Liebe, Respekt und Anerkennung, um diese im Gegenzug von seinem Partner zurückzubekommen und damit ein gutes Gefühl zu haben. Nun haben Hunde natürlich auch ein paar mehr Bedürfnisse, als nur Liebe zu empfangen. Sie brauchen ausreichend geistige und auch körperliche Beschäftigung, eine klare Sozialstruktur und ein Regelkonstrukt, das Sinn macht. Erst wenn all diese Dinge vorhanden sind und der Hund nicht mehr nur vermenschlicht wird, kann man von einer guten Mensch-Hund-Beziehung sprechen, in der „Sturheit“ mit Sicherheit nicht mehr auf der Tagesordnung steht.
9. "Wenn Dich ein Hund anspringt, dreh Dich zur Seite!"
Welchen Kollateralschaden dieser Tipp oft anrichtet, ist den Ratgebern wohl nicht bewusst. Die Grundidee ist zwar mit Sicherheit richtig: Ein Anspringen des Hundes sollte durch die Aufmerksamkeit des Menschen nicht positiv verstärkt werden, wobei auch negative Aufmerksamkeit (also z. B. Schimpfen) angesehen werden kann. Ein Wegdrehen des Menschen ist aber nicht als Ignoranz, sondern als deutliche Reaktion zu werten. Wer sich mit der Körpersprache von Hunden schon einmal beschäftigt hat, weiß auch, dass ein Abwenden des Körpers sogar zu den Beschwichtigungsgesten zählt, also als Botschaft sinngemäß beinhaltet: „Okay, okay, ich will keinen Konflikt, alles gut.“ Nun ist ein Anspringen – wir reden übrigens wirklich von einem Sprung mit Schwung und keinem beschwichtigenden Hochklettern – in der Regel immer als Distanz- und Respektlosigkeit gegenüber dem Menschen zu bewerten. Oftmals wird es auch als deutliche Maßregelung vonseiten des Hundes genutzt. Wenn wir uns nun also als Reaktion auf diese Körperlichkeit zur Seite drehen, tolerieren wir ja eigentlich sein freches Verhalten und hissen damit quasi die weiße Fahne, wollen vorsichtig die Diskussion beenden. Nun gibt es mit Sicherheit Hunde, die diese Reaktion annehmen und denken: „Okay, Aufmerksamkeit erreiche ich dadurch nicht, dann lass ich es eben bleiben.“ Die meisten Hunde, und vor allem jene, die gerade in einer wichtigen Phase der Erziehung sind, lernen aber leider: „Ha, Frauchen oder Herrchen sind perfekt mit meinem schwungvollen Rempler zu beeindrucken!“ und nutzen diese Form der Korrektur künftig natürlich immer wieder. Gerade bei sehr körperlichen Rassen wie z. B. dem Rhodesian Ridgeback, dem Labrador Retriever, aber auch bei sämtlichen Doggenartigen können solche Körperlichkeiten auch ein echtes Gewichts- und Kraftproblem werden. Umso eher sollte man angemessen darauf reagieren. Was also tun? Die richtige Antwort auf eine solche Distanzunterschreitung ist simpel: Einfach im richtigen Moment (also ganz kurz vor dem Absprung) einen kleinen Schritt auf den Hund zugehen! Damit überrascht man ihn und bringt ihn bei der richtigen Umsetzung ein wenig „aus dem Konzept“. Keinesfalls sollte man natürlich eine Diskussion anfangen, sein Bein gegen den Hund ausstrecken oder Ähnliches. Es geht wirklich – wie so oft im Leben – einfach nur um richtiges Timing.
10. "Die Nase ist das wichtigste Sinnesorgan des Hundes."
Hunde kommunizieren mit vier wichtigen Sinnen: Auditiv – also alles, was Lautekommunikation betrifft –, olfaktorisch – also alles, was Gerüche betrifft –, visuell – also alles, was Sehen und Optik betrifft – und taktil – also die Kommunikation über Berührungen. In meinen Seminaren frage ich die Teilnehmer regelmäßig, welche Kommunikationsform sie denn als die wichtigste für Hunde einschätzen. Unisono lautet die Antwort immer: den Geruchssinn – also die olfaktorische Kommunikation. Auch wenn der Geruchssinn des Hundes am besten von allen ausgeprägt ist und er seine Umwelt größtenteils über diesen Sinn wahrnimmt, ist die Nase für ihn bei Begegnungen zunächst nicht so wichtig. Viel bedeutender ist es nämlich, erst einmal zu SEHEN, wie sich das Gegenüber auf Distanz ausdrückt. Wie auch bei uns Menschen entscheidet nämlich der erste Eindruck meist über den weiteren Verlauf einer Begegnung. Erst dann kommen das Riechen und Hören hinzu und zuletzt auch unter Umständen das Fühlen. Auch wenn die taktilen Signale meist erst ganz zum Schluss eingesetzt werden, sind sie in der hündischen Sprache doch von entscheidender Bedeutung. Denn wenn zwei Hunde sich nicht verstehen, entscheidet sich nun, ob es „richtig zur Sache“ geht und eine aggressive körperliche Auseinandersetzung nicht mehr abwendbar ist. Die Wichtigkeit der visuellen Kommunikation bedeutet für uns also, dass wir bereits viel früher beginnen müssen, Hundebegegnungen zu beobachten, um sie richtig einschätzen zu können. Ebenso wie der eigene Hund sollte man in der Lage sein, einen entgegenkommenden Hund zu beschreiben. Wichtig ist hier aber auch, erst einmal bei der Beschreibung zu bleiben und nicht gleich zu interpretieren. Hunde drücken sich durch die Kombination verschiedenster Mimik, Gestik und Laute aus, die Gesamtheit dieser Elemente ermöglicht die Interpretation des Verhaltens. Wir Menschen brauchen übrigens keine Hundeflüsterer-Gabe, um diese Sprache zu verstehen. Sie ist erlernbar wie jede andere auch.